Herr Glatzle: Wie erklären Sie einem Kind in unseren Einrichtungen, was ein Geschäftsführer eigentlich macht?
Veit-Michael Glatzle (VMG): Der Geschäftsführer ist der Chef der Diakonie. Er trägt die gesamte Verantwortung und sorgt gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen dafür, dass sie ihre Aufgaben gut erfüllt, dass sie dafür genug Geld hat, dass alle Mitarbeitenden gut arbeiten können und dies gern tun und dass alle Menschen, mit denen wir zu tun haben, hoffentlich einen Weg zu Gott finden.
Wie sind Sie Geschäftsführer geworden?
VMG: Für mich war das eine Berufung. Als Geschäftsführer einer Firmengruppe in München ging es mir sehr gut. Aber es gab Ereignisse, durch die ich mir sicher wurde: Es ist Gottes Weg mit mir, dass ich diese neue Aufgabe in Korntal übernehme. Das brachte einschneidende Veränderungen mit sich, familiär wie beruflich. Doch ich wusste innerlich: Hier bin ich am richtigen Ort.
„In der Diakonie habe ich viel Sinnstiftendes und Gottes Beistand mehr als einmal erlebt.“
Was war für Sie besonders wichtig?
VMG: Nur einige Ereignisse will ich herausgreifen: In der Jugendhilfe und der Johannes Kullen-Schule galt es, die Leitung neu zu strukturieren und unsere Angebote den Bedürfnissen der Kinder anzupassen. Einschneidend war der Abschied der Aidlinger Schwestern aus der Jugendhilfe Korntal. Die Landwirtschaft haben wir neu ausgerichtet und 2010 den Schulbauernhof aufgebaut. Das Gelände des Hoffmannhauses wurde neugestaltet. Zeitweise litten wir unter dramatischem Mitarbeitermangel, diese Herausforderung besteht bis heute. Als Vorstand des Gottlieb-Wilhelm-Hoffmann-Werks habe ich zusammen mit Landwirt Karl Schmid die Bio-Energie für Stromerzeugung gegründet. Das Landschloss lebensfähig auszurichten ist mit Ehepaar Postelt gelungen. Auf dem Hoffmannhausgelände in Wilhelmsdorf hat es zweimal gebrannt. Und natürlich die Aufarbeitung sexueller Gewalt: Sehr bewegt haben mich viele Begegnungen mit Menschen, die in unseren Kinderheimen von Missbrauch betroffen waren. Wir hatten immer einen hohen Anspruch an die Qualität unserer pädagogischen Arbeit, die von christlichen Werten geprägt war und bis heute ist. Aber Missbrauch fand leider trotzdem statt, verursacht durch Menschen aus unseren eigenen Reihen. Das beschämt mich und macht mich demütig.
„Die Investition in Menschen ist das wichtigste, das habe ich immer wieder erfahren.“
Welche Entscheidungen galt es zu treffen?
VMG: Grundlegende strategische Weichenstellungen wie die Gründung unserer Stiftung, die Umstrukturierung des Hoffmannhauses in Wilhelmsdorf, des Schulbauernhofs und der Mutter-Kind-Gruppe oder die Neuausrichtung der Diakonie. Der Neubau des Haupthauses in Wilhelmsdorf nach dem Brand bedeutete eine hohe Investition. Es gab viele Entgeltverhandlungen, oft bis hin zu existentiellen Schiedsstellenverfahren. Erfreulicherweise konnten wir viele hervorragende Führungskräfte einstellen. Manchmal mussten wir uns auch von Mitarbeitenden trennen, das war für alle schwierig.
Wie haben Sie die Zusammenarbeit erlebt?
Ich bin dankbar, dass mich kompetente, erfahrene und vertrauenswürdige Menschen begleitet haben. Die Zusammenarbeit mit unseren Leitungsgremien Brüdergemeinderat und Diakonierat und mit den Führungskräften in unserer Diakonie habe ich als immer als sehr wertschätzend erlebt. Ich habe kritisches und konstruktives Feedback geschätzt. Im professionellen Miteinander und einer tiefen geistlichen Verbundenheit konnten wir uns vertrauensvoll austauschen. Bei kritischen Themen und in angespannten Situationen haben wir immer wieder um tragfähige Lösungen gerungen. Viele Menschen haben für uns gebetet. Das hat mir Kraft und Zuversicht gegeben.
Wie sind Sie mit Fehlern umgegangen?
VMG: Ich schätze Klarheit und Offenheit beim Umgang mit Versäumnissen. Fehler sollten unter vier Augen angesprochen und wenn möglich ausgeräumt werden. Führt das nicht zum Erfolg, soll-ten Dritte hinzugezogen werden. Wo angebracht, ist auch eine persönliche oder öffentliche Entschuldigung und Vergebung „dran“. Und dann ist der Fehler erledigt. Nach diesem Prinzip habe ich selbst gelebt und dies auch von unseren Mitarbeitenden und dem Aufsichtsgremium erwartet. Ich habe den Eindruck, dies ist meistens gelungen.
Worauf schauen Sie dankbar zurück?
VMG: Zum einen auf die christliche Dienstgemeinschaft, die geprägt ist von unserem Leitbild, das wir kontinuierlich weiterentwickelt haben, damit unsere Diakonie auch in Zukunft erfolgreich ist. Zum anderen auf den Aufarbeitungsprozess, den wir als erste Institution in Deutschland in dieser Intensität und Systematik durchgeführt haben – und zwar mit ausdrücklicher Mehrheitsbeteiligung Betroffener. Wir haben viel Mut, Kraft, Zeit und Geld investiert bis an die Grenze der Belastbarkeit, manchmal auch darüber hinaus. Es gab kein fachliches oder konzeptionelles Vorbild, aber viel Kritik und Widerstand. Wir wurden von wunderbaren Menschen begleitet und unterstützt, juristisch, psychologisch, organisatorisch, finanziell. Viele Menschen haben uns ermutigt und für uns gebetet. Wir haben oft Gottes Führung erlebt.
Was hat Ihnen Freude gemacht?
VMG: Sehr viel: z.B. Berichte von Schülern auf dem Schulbauernhof, die begeistert erzählten, was sie erkundet und gelernt haben. Wenn Jugendliche aus der Jugendhilfe berichteten, was sie an positiv Prägendem für ihr Leben und an Motivierendem für ihre Zukunft mitnehmen. Wenn Senioren im Altenzentrum ihren Dank und ihre Freude über gute Betreuung zum Ausdruck brachten. Wenn wir von Kostenträgern gute Bewertungen erhielten. Wenn Mitarbeitende ihren Dienst gern tun und sich darin unterstützt fühlten. Wenn wir offen und wertschätzend miteinander umgingen und gute Dienstgemeinschaft pflegten. Die konstruktive Zusammenarbeit mit meiner Geschäftsführungskollegin Jutta Arndt. Viele Gebete von Mitarbeitenden und Gemeindegliedern für mich und uns als Diakonie, die erhört wurden. Dass wir motivierte und leistungsfähige Mitarbeitende einstellen konnten. Wenn wir bei Vorhaben, die wir gemeinsam erarbeitet hatten, Gottes Führung spürten. Wenn wir gute Entscheidungen treffen und umsetzen konnten. Die Gemeinschaft mit Kolleginnen und Kollegen in der Geschäftsführung und Leitungsrunde, den Austausch in Andachten und am Rande vieler Sitzungen, das gegenseitige Ermutigen und einander Mittragen, viele schöne gemeinsame Feiern an Weihnachten, mit Mitarbeitenden, Jahres- und Geburtstagsfeste, Veranstaltungen mit Freunden und Förderern. Besonders den vielen Spenderinnen und Spendern, aber auch den institutionellen Geldgebern, bin ich sehr dankbar, dass wir mit ihrer Hilfe immer wieder Projekte in die Tat umsetzen konnten, die sonst nicht finanziert worden wären.
Was tun Sie im „Ruhestand“?
VMG: Die vielen Herausforderungen in der Diakonie und den Kick bei ihrer Bewältigung werde ich sicher vermissen. Aber Gott sei Dank bin ich fit an Leib und Seele und motiviert, meine Erfahrungen auch künftig im Reich Gottes einzubringen. Ich möchte gern etwas Neues aufbauen, das Menschen dient. Voraussichtlich werde ich mit einer Missionsgesellschaft in Afrika Start-ups gründen und Menschen, die in Armut leben, darin unterstützen, dass sie in Arbeit kommen, von der sie selbstständig leben können.
Herr Glatzle, herzlichen Dank für 20 Jahre Einsatz in unserer Dienstgemeinschaft! Wir wünschen Ihnen Gottes Segen auf allen neuen Wegen!
Das Interview führte Gerd Sander
Ende August 2022 hat Veit-Michael Glatzle sein Amt als Geschäftsführer unserer Diakonie beendet, beim Diakoniesonntag am 09. Oktober 2022 wurde er offiziell von seiner Aufgabe entpflichtet. Einen ausführlichen Bericht und Fotos von seiner Verabschiedung finden Sie auf unserer Homepage.